Maifeiertag
"Während 1996 noch 44 Prozent der Befragten von allen Ereignissen der russischen Geschichte auf den Sieg im Zweiten Weltkrieg am stolzesten waren, waren es 2003 schon 87 Prozent. Je wichtiger der Krieg wurde, desto mehr wuchs die Autorität Stalins als Oberster Befehlshaber und Führer; zwischen 1998 und 2003 verdreifachte sich seine positive Einschätzung fast von 19 Prozent auf 53 Prozent. Wie nach dem Gesetz der kommunizierenden Röhren schwand dabei die Erinnerung an die stalinistischen Repressionen, deren Bedeutung von 29 Prozent Anfang der neunziger Jahre nun unter 1 Prozent fiel. Nach den Umfragen des Lewada-Zentrums, denen diese Ergebnisse entstammen, wäre fast ein Drittel der Bevölkerung bereit, Stalin zum Präsidenten zu wählen."
Zu: Götz Aly, Hitlers Volksstaat
Hans Mommsen: "Aber seine [sc. G. Alys] Feststellung ist unbestreitbar, dass die Akzeptanz des Regimes bei breiten Teilen der deutschen Bevölkerung nicht durch den terroristischen Druck der Gestapo, sondern durch soziale und ökonomische Konzessionen des Regimes zementiert worden ist, bis der Konsens in den letzte Kriegsmonaten schließlich zusammenbrach. Damit räumt Aly erneut mit der Vorstellung auf, dass die NS-Herrschaft von einer kleinen Minderheit der Gesamtbevölkerung getragen wurde. [...] Die Grundmaxime Hitlers bestand darin, in einem künftigen Krieg die Ungleichbehandlung der sozialen Klassen durch die staatlichen Maßnahmen im Bereich der Lebensmittelversorgung, der Steuerabgaben und der Sozialfürsorge zu vermeiden. [Aly zeigt] dass ökonomische Faktoren dazu beigetragen haben, die Judenverfolgung auf eine neue Stufe zu heben. Dass die Finanzexperten des Regimes sich über die inhumanen Folgen der Expropriation der Juden keine Rechenschaft ablegten, steht dabei genauso außer Frage wie der Tatbestand, dass breite Gruppen der Bevölkerung kaum Gewissensbisse empfanden, als sie auf verschiedenste Weise am Eigentum der expropriierten Juden partizipierten."
Micha Brumlik: "Alys These der Finanzierung von Krieg und Judenmord durch Krieg und Judenmord provoziert zwei Fragen aufs Neue, die mit der Kritik an der oben erwähnten 'kapitalismuskritischen' DDR-Historiographie und einer nach Resistenz und Renitenz fahndenden Alltagsgeschichte 'von unten' längst obsolet schienen: der Frage, ob hinter dem Judenmord nicht letztlich doch ökonomische Motive standen und ob wir vor dem Hintergrund der durch antisemitische Sozial- und Mordpolitik korrumpierten deutschen Massen zwar nicht von einer 'Kollektivschuld', wohl aber von einer beinahe an Kollektivschuld grenzenden massenhaften, freilich abgestuften Schuld der damaligen Deutschen sprechen müssen. [...] Aus dem Umstand freilich, dass der Begriff der 'Kollektivschuld' sinnlos ist, folgt freilich nicht, dass man nicht umso schlüssiger von massenhaft vorliegender individueller Schuld sprechen kann, ja geradezu sprechen muss. Im Gegenteil: erst wenn von Kollektivschuld keine Rede mehr ist, öffnet sich der Blick für die große Bereitschaft von Deutschen und Österreichern, sich in arbeitsteiliger Täterschaft bei abgestufter Schwere der Schuld an der Verfolgung, Ausraubung und Ermordung der europäischen Juden zu beteiligen. [...] Die von Aly zum Schluss aufgestellte pauschale Behauptung, dass es die soziale Aufwärtsmobilisierung der Massen und die damit einhergehenden nationale Homogenisierung der europäischen Staaten gewesen sei, die Hitlers Volksstaat letztlich die verbrecherische Energie geliefert hätten, ist aus sachlichen, keineswegs aus politischen Gründen zurückzuweisen; ebenso wie die Missverständnisse provozierende Behauptung, dass in dem, was Aly als 'Egalitarismus' bezeichnet und nicht näher erläutert, individuelle Freiheit und persönliche Integrität grundsätzlich gefährdet seien."
Sonja Margolina über Russland und Kriegsende in NZZ,30.4.05
Zu: Götz Aly, Hitlers Volksstaat
Hans Mommsen: "Aber seine [sc. G. Alys] Feststellung ist unbestreitbar, dass die Akzeptanz des Regimes bei breiten Teilen der deutschen Bevölkerung nicht durch den terroristischen Druck der Gestapo, sondern durch soziale und ökonomische Konzessionen des Regimes zementiert worden ist, bis der Konsens in den letzte Kriegsmonaten schließlich zusammenbrach. Damit räumt Aly erneut mit der Vorstellung auf, dass die NS-Herrschaft von einer kleinen Minderheit der Gesamtbevölkerung getragen wurde. [...] Die Grundmaxime Hitlers bestand darin, in einem künftigen Krieg die Ungleichbehandlung der sozialen Klassen durch die staatlichen Maßnahmen im Bereich der Lebensmittelversorgung, der Steuerabgaben und der Sozialfürsorge zu vermeiden. [Aly zeigt] dass ökonomische Faktoren dazu beigetragen haben, die Judenverfolgung auf eine neue Stufe zu heben. Dass die Finanzexperten des Regimes sich über die inhumanen Folgen der Expropriation der Juden keine Rechenschaft ablegten, steht dabei genauso außer Frage wie der Tatbestand, dass breite Gruppen der Bevölkerung kaum Gewissensbisse empfanden, als sie auf verschiedenste Weise am Eigentum der expropriierten Juden partizipierten."
Micha Brumlik: "Alys These der Finanzierung von Krieg und Judenmord durch Krieg und Judenmord provoziert zwei Fragen aufs Neue, die mit der Kritik an der oben erwähnten 'kapitalismuskritischen' DDR-Historiographie und einer nach Resistenz und Renitenz fahndenden Alltagsgeschichte 'von unten' längst obsolet schienen: der Frage, ob hinter dem Judenmord nicht letztlich doch ökonomische Motive standen und ob wir vor dem Hintergrund der durch antisemitische Sozial- und Mordpolitik korrumpierten deutschen Massen zwar nicht von einer 'Kollektivschuld', wohl aber von einer beinahe an Kollektivschuld grenzenden massenhaften, freilich abgestuften Schuld der damaligen Deutschen sprechen müssen. [...] Aus dem Umstand freilich, dass der Begriff der 'Kollektivschuld' sinnlos ist, folgt freilich nicht, dass man nicht umso schlüssiger von massenhaft vorliegender individueller Schuld sprechen kann, ja geradezu sprechen muss. Im Gegenteil: erst wenn von Kollektivschuld keine Rede mehr ist, öffnet sich der Blick für die große Bereitschaft von Deutschen und Österreichern, sich in arbeitsteiliger Täterschaft bei abgestufter Schwere der Schuld an der Verfolgung, Ausraubung und Ermordung der europäischen Juden zu beteiligen. [...] Die von Aly zum Schluss aufgestellte pauschale Behauptung, dass es die soziale Aufwärtsmobilisierung der Massen und die damit einhergehenden nationale Homogenisierung der europäischen Staaten gewesen sei, die Hitlers Volksstaat letztlich die verbrecherische Energie geliefert hätten, ist aus sachlichen, keineswegs aus politischen Gründen zurückzuweisen; ebenso wie die Missverständnisse provozierende Behauptung, dass in dem, was Aly als 'Egalitarismus' bezeichnet und nicht näher erläutert, individuelle Freiheit und persönliche Integrität grundsätzlich gefährdet seien."
vgl. FR,30.04.05
bigapple - 1. Mai, 16:35
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