Befreite Besiegte
"[...] gerade die jüngere Generation konnte auf eindrückliche Weise erleben, wie in der Bundesrepublik in Bezug auf die NS-Zeit 'offizielles' und 'privates Erinnern' auseinander klaffen, wie politisch korrekte Gedenkkultur und privat recht zügellose Schimpferei über 'Juden', 'Zigeuner' und 'Russen' über Dekaden koexistierten. [...]
Wovon diese Menschen nicht erzählen können und was die private, authentische Erinnerung im Vergleich zur trocken-didaktisch daherkommenden 'offiziellen' so gefährlich macht , ist die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus, die Geschichte des Leids vor der reaktiven Aggression der späteren Siegermächte. [...]
Und wenn zurecht von 'Ambivalenztoleranz' (Micha Brumlik) gesprochen wird also ein differenzierterer Blick auf Opfer und Täter eingefordert wird , wird diese neue Perspektive stets auf deutsche Täter/Opfer angewandt. Man fragt sich, wo umgekehrt die Entzauberung des "bösen Russen" bleibt: In der Großelterngeneration war stets von dem Russen die Rede und nie von den 14 Millionen getöteter Zivilisten und nicht von der Belagerung Leningrads, bei der fast eine Million Menschen verhungerte. [...(sowie von den fünf Millionen russischer Kriegsgefangener, wovon mehr als drei Millionen ermordet wurden oder von der Wehrmacht gewollt 1941/42 in den Gefangenenlagern verhungerten...)]
Die 'aufklärerische' Haltung der 68er scheint die jüngere Generation in nüchternerer und zurückhaltenderer Form fortzusetzen, mit der Möglichkeit zu mehr Gelassenheit aufgrund des historischen Abstands. Einen alten Großvater und eine bettlägerige Großmutter greift man weniger frontal an als einen rüstigen Vater und eine vitale Mutter. Hinzu kommt, dass man sich von einem alten Menschen wenig 'Änderung' der inneren Haltung verspricht und der 'pädagogische Ansatz' der 68er in Bezug auf ihre Eltern hier von vorneherein nicht mehr intendiert war. Das hat weniger mit einem Mangel an Leidenschaft als mit einer gewissen pragmatischen Einsicht in die Realität zu tun. [...]"
Gauck berichtet über die (wenigen) Mitglieder des "Reservebataillons 101 in Hamburg, die die Teilnahme an einer Erschießungsaktion der Nazis verweigerten und straflos blieben, [während] jene, die bei dem Massaker mitmachten, sich nach dem Krieg nicht erinnern konnten, je die Wahl gehabt zu haben."
Und bezüglich meiner sog. Heimat hat sich ein lange in mir umgehender Verdacht in allerdings unerwartetem Ausmaß bestätigt: Bei der letzten freien Wahl im Novermber '32, als die Nazis gegenüber ihrem Wahlerfolg von 37,4 Prozent im Juli 4 Prozent einbüßten und reichsweit nur auf 33,4 Prozent kamen, liefen Hitler fast nirgendwo so viele Wählerinnen und Wähler zu wie im Vogelsberg. In der Liste der Hochburgen der Nazis nahmen die Kreise Schotten, Lauterbach und Alsfeld (heute Vogelsbergkreis) die Plätze 2 bis 4 ein: Hitler wählten 76,2 Prozent im Kreis Schotten, 73,1 im Kreis Lauterbach und 71,3 Prozent im Kreis Alsfeld. Unter den insgesamt 1.200 Kreisen im Deutschen Reich war nur im fränkischen Rothenburg das Ergebnis besser.
Wovon diese Menschen nicht erzählen können und was die private, authentische Erinnerung im Vergleich zur trocken-didaktisch daherkommenden 'offiziellen' so gefährlich macht , ist die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus, die Geschichte des Leids vor der reaktiven Aggression der späteren Siegermächte. [...]
Und wenn zurecht von 'Ambivalenztoleranz' (Micha Brumlik) gesprochen wird also ein differenzierterer Blick auf Opfer und Täter eingefordert wird , wird diese neue Perspektive stets auf deutsche Täter/Opfer angewandt. Man fragt sich, wo umgekehrt die Entzauberung des "bösen Russen" bleibt: In der Großelterngeneration war stets von dem Russen die Rede und nie von den 14 Millionen getöteter Zivilisten und nicht von der Belagerung Leningrads, bei der fast eine Million Menschen verhungerte. [...(sowie von den fünf Millionen russischer Kriegsgefangener, wovon mehr als drei Millionen ermordet wurden oder von der Wehrmacht gewollt 1941/42 in den Gefangenenlagern verhungerten...)]
Die 'aufklärerische' Haltung der 68er scheint die jüngere Generation in nüchternerer und zurückhaltenderer Form fortzusetzen, mit der Möglichkeit zu mehr Gelassenheit aufgrund des historischen Abstands. Einen alten Großvater und eine bettlägerige Großmutter greift man weniger frontal an als einen rüstigen Vater und eine vitale Mutter. Hinzu kommt, dass man sich von einem alten Menschen wenig 'Änderung' der inneren Haltung verspricht und der 'pädagogische Ansatz' der 68er in Bezug auf ihre Eltern hier von vorneherein nicht mehr intendiert war. Das hat weniger mit einem Mangel an Leidenschaft als mit einer gewissen pragmatischen Einsicht in die Realität zu tun. [...]"
Tanja Dückers (*1968) in FR, 7.5.05
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Gauck berichtet über die (wenigen) Mitglieder des "Reservebataillons 101 in Hamburg, die die Teilnahme an einer Erschießungsaktion der Nazis verweigerten und straflos blieben, [während] jene, die bei dem Massaker mitmachten, sich nach dem Krieg nicht erinnern konnten, je die Wahl gehabt zu haben."
S. Hebel in FR, 15.02.'97
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Und bezüglich meiner sog. Heimat hat sich ein lange in mir umgehender Verdacht in allerdings unerwartetem Ausmaß bestätigt: Bei der letzten freien Wahl im Novermber '32, als die Nazis gegenüber ihrem Wahlerfolg von 37,4 Prozent im Juli 4 Prozent einbüßten und reichsweit nur auf 33,4 Prozent kamen, liefen Hitler fast nirgendwo so viele Wählerinnen und Wähler zu wie im Vogelsberg. In der Liste der Hochburgen der Nazis nahmen die Kreise Schotten, Lauterbach und Alsfeld (heute Vogelsbergkreis) die Plätze 2 bis 4 ein: Hitler wählten 76,2 Prozent im Kreis Schotten, 73,1 im Kreis Lauterbach und 71,3 Prozent im Kreis Alsfeld. Unter den insgesamt 1.200 Kreisen im Deutschen Reich war nur im fränkischen Rothenburg das Ergebnis besser.
aus FR, 03.03.'97
bigapple - 8. Mai, 08:53
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