NS und Genozid

Sonntag, 8. Mai 2005

Befreite Besiegte

"[...] gerade die jüngere Generation konnte auf eindrückliche Weise erleben, wie in der Bundesrepublik in Bezug auf die NS-Zeit 'offizielles' und 'privates Erinnern' auseinander klaffen, wie politisch korrekte Gedenkkultur und privat recht zügellose Schimpferei über 'Juden', 'Zigeuner' und 'Russen' über Dekaden koexistierten. [...]

Wovon diese Menschen nicht erzählen können — und was die private, authentische Erinnerung im Vergleich zur trocken-didaktisch daherkommenden 'offiziellen' so gefährlich macht —, ist die Geschichte der Opfer des Nationalsozialismus, die Geschichte des Leids vor der reaktiven Aggression der späteren Siegermächte. [...]

Und wenn zurecht von 'Ambivalenztoleranz' (Micha Brumlik) gesprochen wird — also ein differenzierterer Blick auf Opfer und Täter eingefordert wird —, wird diese neue Perspektive stets auf deutsche Täter/Opfer angewandt. Man fragt sich, wo umgekehrt die Entzauberung des "bösen Russen" bleibt: In der Großelterngeneration war stets von dem Russen die Rede — und nie von den 14 Millionen getöteter Zivilisten und nicht von der Belagerung Leningrads, bei der fast eine Million Menschen verhungerte. [...(sowie von den fünf Millionen russischer Kriegsgefangener, wovon mehr als drei Millionen ermordet wurden oder — von der Wehrmacht gewollt — 1941/42 in den Gefangenenlagern verhungerten...)]

Die 'aufklärerische' Haltung der 68er scheint die jüngere Generation in nüchternerer und zurückhaltenderer Form fortzusetzen, mit der Möglichkeit zu mehr Gelassenheit aufgrund des historischen Abstands. Einen alten Großvater und eine bettlägerige Großmutter greift man weniger frontal an als einen rüstigen Vater und eine vitale Mutter. Hinzu kommt, dass man sich von einem alten Menschen wenig 'Änderung' der inneren Haltung verspricht und der 'pädagogische Ansatz' der 68er in Bezug auf ihre Eltern hier von vorneherein nicht mehr intendiert war. Das hat weniger mit einem Mangel an Leidenschaft als mit einer gewissen pragmatischen Einsicht in die Realität zu tun. [...]"

Tanja Dückers (*1968) in FR, 7.5.05

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Gauck berichtet über die (wenigen) Mitglieder des "Reservebataillons 101 in Hamburg, die die Teilnahme an einer Erschießungsaktion der Nazis verweigerten — und straflos blieben, [während] jene, die bei dem Massaker mitmachten, sich nach dem Krieg nicht erinnern konnten, je die Wahl gehabt zu haben."
S. Hebel in FR, 15.02.'97

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Und bezüglich meiner sog. Heimat hat sich ein lange in mir umgehender Verdacht in allerdings unerwartetem Ausmaß bestätigt: Bei der letzten freien Wahl im Novermber '32, als die Nazis gegenüber ihrem Wahlerfolg von 37,4 Prozent im Juli 4 Prozent einbüßten und reichsweit nur auf 33,4 Prozent kamen, liefen Hitler fast nirgendwo so viele Wählerinnen und Wähler zu wie im Vogelsberg. In der Liste der Hochburgen der Nazis nahmen die Kreise Schotten, Lauterbach und Alsfeld (heute Vogelsbergkreis) die Plätze 2 bis 4 ein: Hitler wählten 76,2 Prozent im Kreis Schotten, 73,1 im Kreis Lauterbach und 71,3 Prozent im Kreis Alsfeld. Unter den insgesamt 1.200 Kreisen im Deutschen Reich war nur im fränkischen Rothenburg das Ergebnis besser.
aus FR, 03.03.'97

Donnerstag, 5. Mai 2005

Herrentag

"[...] Die Dimensionen waren gewaltig. Zu Beginn des Jahres 1941 arbeiteten 25.349 Kriegsgefangene und ausländische Zivilisten im deutschen und österreichischen Steinkohlebau. Zwei Jahre später ist allein die Zahl der so genannten Ostarbeiter, also hauptsächlich russische Kriegsgefangene, bereits knapp zehnmal so hoch: mehr als 220.000 Menschen. Sie stellen ein Viertel der Belegschaft im Steinkohlebau unter deutscher Herrschaft. Im März 1944 beträgt der Ausländeranteil im 'großdeutschen' Steinkohlebergbau über 40 Prozent der Belegschaft. [...]

Die meisten deutschen Bergbauunternehmen und deren regionale Organisationen 'begrüßten', wie es in der Untersuchung heißt, den 'nahezu vollständigen Schwenk des Ausländereinsatzes zur Zwangsarbeit'. Denn die Zwangsarbeiter wurden bewacht und waren nach Belieben einsetzbar.

Obgleich ihnen hohe körperliche Leistungen abverlangt wurden, war ihre Ernährung in der Regel unzureichend. Die Essensrationen wurden von den Arbeitsleistungen abhängig gemacht. Auf diese Weise standen die Zwangsarbeiter unter dem physischen und psychischen Druck, über ihre körperliche Leistungsfähigkeit hinauszugehen, um nicht zu verhungern. Die so genannte 'Leistungsernährung' wirkte im seinerzeitigen Sprachgebrauch 'selektierend'. Die weniger Leistungsfähigen wurden, wie es hieß, 'ausgeschieden'. Sie gingen an Unterernährung zugrunde. [...]

Die 'Vernichtung durch Arbeit' geriet auch in den Kohlezechen zum integralen Teil des systematischen Völkermords."

Werner Müller in Die Zeit, 4.Mai 05
Werner Müller ist Vorstandsvorsitzender
des Bergbau- und Energie-Unternehmens RAG Aktiengesellschaft.
Von 1998 bis 2003 war er Bundeswirtschaftsminister.



"Es lagen die alten Germanen zu beiden Seiten des Rheins
Sie lagen auf Bärenhäuten und tranken immer noch eins …
Da trat in ihre Mitte ein Römer mit deutschem Gruß
›Heil Hitler!‹ Ihr alten Germanen, ich bin der Tacitus…
[Volksdeutscher Mund]

Vielleicht waren die Elemente, die sich im Nazitum bündelten: Antisemitismus, Herrenrassenwahn, Nationalismus, Militarismus, selbst der dümmlich-naive Idealismus, mit dem sich so viele der Volksgenossen hernach zu rechtfertigen suchten, nur die Camouflage einer gigantischen Leere? Nur die aggressive Tarnung eines Minderwertigkeitskomplexes, der die Verlorenheit in der Zivilisation des Westens anzeigte? Nur der verkommene Ersatz für die 'deutsche Seele', die sich laut Nietzsche spätestens mit der Gründung des Zweiten Reiches davongemacht hatte? Eine schäbige Nichtigkeit, die Entsetzlicheres anrichtete, als es der Menschheit jemals zuvor widerfahren ist."
Klaus Harpprecht, a.a.O.

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