Walpurgisnacht
"… geradeaus in den Busch und losschlagen, und zwar sofort, ohne mit Fragen weitere Zeit zu vertun … Töte und töte rasch, das ist alles ... Während der ersten Tage waren die im Vorteil, die schon mal Hühner und vor allem Ziegen geschlachtet hatten …"
In Algerien massakrierten französische Truppen am 8. Mai 1945, der als "Jahrestag der Befreiung" bis heute in Frankreich gefeiert wird, Zehntausende Demonstranten, die für die Unabhängigkeit des Landes demonstrierten [ ... ] "Asienexperten" ignorieren den faschistischen Führerkult, den Thailands langjähriger Militärdiktator Phibun in den vierziger Jahren aus Europa importierte, ebenso wie die Unterstützung der japanischen Kriegführung durch hochrangige Funktionäre der indonesischen Befreiungsbewegung. Und selbst der "Indischen Legion" der deutschen Wehrmacht können deutsche Autoren positive antikoloniale Züge abgewinnen, obwohl sich die dafür rekrutierten Inder 1944 in die Waffen-SS eingliedern ließen und für Massaker an der Zivilbevölkerung in Frankreich verantwortlich sind [ ... ] Der Umgang mit den vergessenen Kriegsopfern aus der Dritten Welt ist ein Beispiel für das, was der nigerianische Nobelpreisträger für Literatur Wole Soyinka "Kultur der Straflosigkeit" nennt: Hinterbliebenen gefallener Kolonialsoldaten wurden Pensionen verwehrt. Zahllose Zwangsarbeiter und Zwangsprostituierte erhielten nie eine Entschädigung. Kriegsverbrechen wie die Massaker der deutschen Wehrmacht an afrikanischen Kolonialsoldaten in Chasseley, der französischen Streitkräfte an westafrikanischen Kriegsheimkehrern im senegalesischen Thiaroye und der Japaner an der Zivilbevölkerung im chinesischen Nanking blieben ungesühnt. Millionen Opfer von Hungerkatastrophen, die in Folge des Zweiten Weltkriegs in Nordvietnam, Bengalen und Ostafrika ausbrachen, sind vergessen. Für die Schäden, die sie mit ihrem Krieg in vielen Ländern Nordafrikas, Asiens, Ozeaniens und an der Küste Lateinamerikas anrichteten, haben die Verursacher aus den Achsenmächten nie angemessene Reparationszahlungen leisten müssen.
Was soll ein älterer Mensch denken und vor allem fühlen, wenn sie oder er mit einer bösartigen Geschwulst am Unterschenkel in ein Landkrankenhaus mit einem gleichwohl auf seinem Gebiet von Kollegen nah & fern als Koryphäe bezeichneten Klinikchef eingewiesen wird, der, ohne sich auf irgendeinen konkreten positiven Befund stützen zu müssen, sogleich von Chemotherapie als der einzig vertretbaren spricht, indes sein Haus-Chirurg in Begleitung des Oberarztes noch eine Stunde zuvor das großzügig bemessene Areal seines schon anderntags beabsichtigten Eingriffs mit blauem Filzstift auf die Haut gemalt und von der Notwendigkeit von vier bis fünf Wochen stationärem Aufenthalt gesprochen hat? Und dann — "Machen Sie sich doch mal frei..." — die Koryphäe nach weiteren Geschwülsten in der Leistengegend forschen lassen muss, von denen sie selber noch gar nichts weiß, welche freilich auch die Koryphäe nicht finden kann, denn — ach Gott! — sie hat die Krankenakten verwechselt, was, wenn man gerade aus dem Urlaub zurückgekommen ist, 65 PatientInnen gleichzeitig zu verarzten hat und sich erst wieder reinfinden muss, wohl nachvollziehbar sein dürfte!
Nachdem pro forma eine Beckenstanze gemacht wurde, ist noch — pro forma? — eine Thorax-CT nötig, die aber nur in einem ca. 50 km entfernten Krankenhaus durchgeführt werden kann, und dort möchte man dann auch noch den Kopf der Patientin "in die Röhre" stecken — "Ja, warum denn? Ich hab doch nichts am Kopf, sondern was am Bein!" — "Aber Sie hatten doch vor kurzem eine Netzhautablösung, oder?" — "Aber nein! Glauben Sie mir!"
Und als sie der Hausarzt in ein drittes Krankenhaus einweist und dort die Befunde tatsächlich über eine halbe Stunde studiert worden sind, spricht der sympathisch dicke Internist (und zwar nach persönlicher Inaugenscheinnahme der Geschwulst), sich abermals über jene Befunde beugend, von einem NHL im zweiten Drittel des linken — Oberschenkels. Ungläubiges Erstaunen der Patientin, als sie sich mit der Erklärung zufrieden geben soll, da sei der Sekretärin halt bei Eingabe des entsprechenden Codes ein Zahlendreher unterlaufen... Und pappt auf die inzwischen faustgroße Geschwulst, in der von den wiederholten Einstichen für Probe- und Feinbiopsie und der anschließenden, mit Betaisodona und Antibiotika bekämpften eitrigen Infektion ein ziemliches Loch klafft -, pappt, nachdem er noch mal besagte Salbe appliziert hat, einfach ein Pflaster drauf, ohne irendwelchen Mull zu verwenden und entgegnet auf die Einwände beruhigend, es sei ja nur provisorisch: die Patientin möge sich zu Hause eben einen richtigen Verband anlegen...
Aus: Jean Hatzfeld, Die Zeit der Macheten
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In Algerien massakrierten französische Truppen am 8. Mai 1945, der als "Jahrestag der Befreiung" bis heute in Frankreich gefeiert wird, Zehntausende Demonstranten, die für die Unabhängigkeit des Landes demonstrierten [ ... ] "Asienexperten" ignorieren den faschistischen Führerkult, den Thailands langjähriger Militärdiktator Phibun in den vierziger Jahren aus Europa importierte, ebenso wie die Unterstützung der japanischen Kriegführung durch hochrangige Funktionäre der indonesischen Befreiungsbewegung. Und selbst der "Indischen Legion" der deutschen Wehrmacht können deutsche Autoren positive antikoloniale Züge abgewinnen, obwohl sich die dafür rekrutierten Inder 1944 in die Waffen-SS eingliedern ließen und für Massaker an der Zivilbevölkerung in Frankreich verantwortlich sind [ ... ] Der Umgang mit den vergessenen Kriegsopfern aus der Dritten Welt ist ein Beispiel für das, was der nigerianische Nobelpreisträger für Literatur Wole Soyinka "Kultur der Straflosigkeit" nennt: Hinterbliebenen gefallener Kolonialsoldaten wurden Pensionen verwehrt. Zahllose Zwangsarbeiter und Zwangsprostituierte erhielten nie eine Entschädigung. Kriegsverbrechen wie die Massaker der deutschen Wehrmacht an afrikanischen Kolonialsoldaten in Chasseley, der französischen Streitkräfte an westafrikanischen Kriegsheimkehrern im senegalesischen Thiaroye und der Japaner an der Zivilbevölkerung im chinesischen Nanking blieben ungesühnt. Millionen Opfer von Hungerkatastrophen, die in Folge des Zweiten Weltkriegs in Nordvietnam, Bengalen und Ostafrika ausbrachen, sind vergessen. Für die Schäden, die sie mit ihrem Krieg in vielen Ländern Nordafrikas, Asiens, Ozeaniens und an der Küste Lateinamerikas anrichteten, haben die Verursacher aus den Achsenmächten nie angemessene Reparationszahlungen leisten müssen.
Aus: Rheinisches JournalistInnenbüro, Unsere Opfer zählen nicht
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Was soll ein älterer Mensch denken und vor allem fühlen, wenn sie oder er mit einer bösartigen Geschwulst am Unterschenkel in ein Landkrankenhaus mit einem gleichwohl auf seinem Gebiet von Kollegen nah & fern als Koryphäe bezeichneten Klinikchef eingewiesen wird, der, ohne sich auf irgendeinen konkreten positiven Befund stützen zu müssen, sogleich von Chemotherapie als der einzig vertretbaren spricht, indes sein Haus-Chirurg in Begleitung des Oberarztes noch eine Stunde zuvor das großzügig bemessene Areal seines schon anderntags beabsichtigten Eingriffs mit blauem Filzstift auf die Haut gemalt und von der Notwendigkeit von vier bis fünf Wochen stationärem Aufenthalt gesprochen hat? Und dann — "Machen Sie sich doch mal frei..." — die Koryphäe nach weiteren Geschwülsten in der Leistengegend forschen lassen muss, von denen sie selber noch gar nichts weiß, welche freilich auch die Koryphäe nicht finden kann, denn — ach Gott! — sie hat die Krankenakten verwechselt, was, wenn man gerade aus dem Urlaub zurückgekommen ist, 65 PatientInnen gleichzeitig zu verarzten hat und sich erst wieder reinfinden muss, wohl nachvollziehbar sein dürfte!
Nachdem pro forma eine Beckenstanze gemacht wurde, ist noch — pro forma? — eine Thorax-CT nötig, die aber nur in einem ca. 50 km entfernten Krankenhaus durchgeführt werden kann, und dort möchte man dann auch noch den Kopf der Patientin "in die Röhre" stecken — "Ja, warum denn? Ich hab doch nichts am Kopf, sondern was am Bein!" — "Aber Sie hatten doch vor kurzem eine Netzhautablösung, oder?" — "Aber nein! Glauben Sie mir!"
Und als sie der Hausarzt in ein drittes Krankenhaus einweist und dort die Befunde tatsächlich über eine halbe Stunde studiert worden sind, spricht der sympathisch dicke Internist (und zwar nach persönlicher Inaugenscheinnahme der Geschwulst), sich abermals über jene Befunde beugend, von einem NHL im zweiten Drittel des linken — Oberschenkels. Ungläubiges Erstaunen der Patientin, als sie sich mit der Erklärung zufrieden geben soll, da sei der Sekretärin halt bei Eingabe des entsprechenden Codes ein Zahlendreher unterlaufen... Und pappt auf die inzwischen faustgroße Geschwulst, in der von den wiederholten Einstichen für Probe- und Feinbiopsie und der anschließenden, mit Betaisodona und Antibiotika bekämpften eitrigen Infektion ein ziemliches Loch klafft -, pappt, nachdem er noch mal besagte Salbe appliziert hat, einfach ein Pflaster drauf, ohne irendwelchen Mull zu verwenden und entgegnet auf die Einwände beruhigend, es sei ja nur provisorisch: die Patientin möge sich zu Hause eben einen richtigen Verband anlegen...
bigapple - 1. Mai, 00:19
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