Sonntag, 27. März 2005

Wieder Ostern

"Das möchte ich: schon gewesen sein", zitiert Ilse Aichinger mit inbrünstiger Zustimmung einen Buchtitel von Claudio Magris. Sie wolle keine Spuren hinterlassen, sagt sie im FR-Interview. - Elende Koketterie der Skribenten.

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"DAS IST ES, woran wir krepieren. Das Leben ohne Geist und die Werke des Geistes ohne Leben."
"Mopsa" Sternheim

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Und ich hänge zur Zeit derart in den Sielen, dass mir die Puste ausgeht. Nur paar Atemzüge lang gelingt es, am Stück über diese verfahrene Situation nachzudenken, dafür natürlich umso mehr, entsprechend gedopt darüber zu labern, doch da muss man sich hinter dem Getratsche übers gemeinsam Erlebte, das Hörensagen etc. schon aus Höflichkeit vor jeder Konsequenz verstecken. Reflektion freilich triebe mich, wenn ich sie nicht sofort wieder abbräche, eben weil ich keine Kraft, keinen Mut habe, Konsequenzen zu ziehen, straks in Verzweiflung. – Auch das natürlich nur hochtrabendes Herumgerede, weil's einfach allzu banal und peinlich und unwürdig ist, davon anzufangen, dass man auf die Zusage von ganzen 160.- Euro, bei ALG I erlaubten Zuverdienstes für den nächsten Monat wartet, während sich der Berg der Vorhaben, die ich allesamt tierisch ernst nehme und in ihrer Armseligkeit überhaupt nicht einzuschätzen vermag, je mehr wir ackern, immer höher türmt. So tief steck' ich mit dem Kopf im Monitor, dass mir bisweilen ein urbaner Bauer, der des Abends mit Inbrunst seine Galloways streichelt, die er da auf seiner zum Biotop umgewidmeten Müllkippe vor der Haustür weiden lässt, wie ein cleverer, geistesgegenwärtiger Realist & Lebenskünstler erscheint.
polen
Beim Rauchen gestern plötzlich mal wieder jener Schmerz im Kehlkopf, Inkubus Sukkubus erinnern an die späten 70er, und dann die Frage, seit wie vielen Jahrzehnten ich mit welchen Instrumenten was für Zeug reingezogen habe, welche Schicksalsschläge unmittelbar bevorstehen mögen, sei's dass ich plötzlich vom Ross falle oder B, und dass man doch nur aus Dummheit, elender Stumpfheit nicht verzweifelt, sondern weitermacht, so lange es eben geht. – Dialektik der Dummheit: "Höhere Intelligenz" oder gar "Weisheit" müsste doch alsbald umschlagen in Irrsinn! Die Dummheit ist überlebensnotwendig, gerade weil sie regiert, über allem Wissen thront und dies nur nutzt, um jegliches Leben immer kleiner, niedriger, erbärmlicher zu machen.

Eine Hiobsbotschaft

Wir wollten unser Blog zunächst mal als eine Art literarisches Tagebuch beginnen, wobei literarisch lediglich meint, dass nur Privates nach Möglichkeit außen vor bleibt, nicht aber, dass es fiktional ist, und dann mal zusehen, welche Erfahrungen wir machen und wohin die Reise geht – doch erfahren gerade, als wir nach einem geeigneten Intro forschen, dass mein betagter Vater, nachdem er sich offenbar über Wochen nur von Bier und Jägermeister ernährt hat, mal wieder zum Entgiften im Krankenhaus gelandet ist, mit blauen Flecken am ganzen Körper vom Treppensturz, der diesmal zum Glück nicht zu Knochenbrüchen geführt hat. –
Stundenlang hab ich jede Woche mit ihm telefoniert, wie ich es seit Jahren tue, hab mir von Spaziergängen und Schwimmbädern erzählen lassen und schließlich von Ess-Störungen, als ich, von schwerer Zunge, zusammenhanglosem Geschwätz, ach, nur diesem unmotivierten Seufzen hellhörig geworden, mich endlich ermannte und nachhakte. Mehr als solches Einbekenntnis ("ich hab's wieder mit dem Magen...") ist für mich auch nie rauszukriegen, ich dring nicht durchs Lügengespinst, wenn ich weiterreden soll, aber im Krankenhaus, sagt mein Bruder, der alles schon seit Wochen vorausgesehen hat und nun im Osterurlaub, den er eigentlich mit seiner Frau an der Ostsee verbringen wollte, mit ihr am Krankenbett, also an Ort & Stelle ist –, im Krankenhaus hat man laut meinem Bruder sofort die "mangelnde Einsicht" erkannt.
Kann sie in diesem Alter noch kommen, die "Einsicht", die Voraussetzung aller Therapie? Ich glaub nicht mehr daran.

Mein Vater lebt völlig vereinsamt in jenem Kaff L., wohin er nie wollte, wo er als Flüchtling von Anfang an um Akzeptanz zu kämpfen hatte, sich bis heute nicht angenommen fühlt und sich zugleich diesen dickschädeligen Dörflern so haushoch überlegen dünkt., ach wozu lange ausholen, um zu erklären, dass mein dünkelhafter Vater keine Freunde und kaum Bekannte hat, dass er "immer allein hockt", wie er mir wieder und wieder ins Ohr raunt. Um ihn herum sterben sie, manche noch weit jünger als er, in der Nachbarschaft sterben sie und in der Verwandtschaft und obschon mein Vater zu niemanden sonderlich Kontakt pflegte, ja den meisten spinnefeind gewesen ist, nimmt ihn jeder neuerliche Todesfall ungeheuer mit.

Ich lebe & arbeite fünfhundert Kilometer östlich von L. entfernt, wir besuchen ihn selten, aber diese Ostern wollten wir ihn besuchen, doch mein Bruder, der nur 250 km westlich von L. arbeitet & lebt, ihn viel öfter besucht, schon immer, seit er von zu Hause weg ist, er wollte wie gesagt an die Ostsee und zwar mit dem Vater -, aber so was haben wir schon hinter uns: Es war seinerzeit mitten im Winter und der reinste Horror.
Wir rannten in der eisigen Kälte an Strand & Meer entlang, mein Bruder und seine Frau vorneweg, in der Mitte der Vater und B & ich als Schlusslichter oder auch umgekehrt.
Die Szenerie auf dem Darß war ungeheuer, die See zum Teil zugefroren, Scharen von Seeschwalben und riesigen Möwen standen auf dem Eis, endlos dehnten sich die Dünen im schneidenden Wind, dass wir Schutz suchten im wärmeren Wald - und die ganze Zeit grummelte und schimpfte mein Vater vor sich hin; nur was er wollte, war nicht rauszukriegen.
Ich war wohl zu dünn angezogen, fror auch in der Nacht noch, zwang mich frühmorgens vorm Frühstück brettsteif unter die Dusche, damit wir mal zeitiger weg kämen und fing mir beim Füße Waschen im Stehen einen solchen Volltreffer von Hexenschuss, dass ich für den Rest unseres Urlaubs völlig außer Gefecht gesetzt war. Die anderen wanderten nun alleine, während ich, wenn ich nicht in welcher schmerzhaften Haltung auch immer las, aus dem Dachfenster den Krähen in den großen kahlen Baumkronen zuschaute. Mein Vater aber sei bester Laune gewesen, erzählte mir B, habe seine Späßchen gemacht und von seinen Hexenschüssen erzählt. Gesoffen hat er damals ziemlich gedrosselt nur Bier, B und ich rauchten G und schmissen alle drei Tage unsere Ration C. Mein Bruder und seine Frau hingegen brauchen keine Drogen.

Wir waren jedenfalls heuer heilfroh, dass wir nicht zu fahren brauchten und nach der Dauerplackerei im Verein paar Tage für uns hätten, doch schon vor Wochen wurde klar, dass mein Vater ebenfalls nicht wegfahren würde, offiziell weil er kein Geld habe, weil er angesichts seiner Schulden, die er sich mit der Renovierung und dem Dachausbau seines Hauses aufgehalst habe, kürzer treten müsse, weil bald die Gartenarbeit losgehe usw., und wir kamen überein, dass es ohnehin viel besser sei, wenn wir später kämen und hier mithelfen könnten. Doch all das war halt nur Gerede und ständig wechselnde Ausflucht, wie ich an der immer düsterer werdenden Hintergrundstimmung unserer Telefonate spürte; mein Bruder sagt, es sei eben mal wieder dran, und Anlässe fänden sich da immer genug, denn er hat in den letzten zwanzig Jahren mit so vielen Ärztinnen und Ärzten geredet, so viele Fachbücher zurate gezogen, ja sogar bei den Anonymen Alkoholikern vorgesprochen, und von allen Seiten hieß & heißt es, wo der Wille fehle, müsse jede Therapie von vornherein scheitern.

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